Geschichtsstunde inklusive
Wenn man mir schonmal nach einem Stadtrundgang ein wenig Freizeit lässt, dann lande ich garantiert in dem einen oder anderen netten Geschäft. Dieses Mal jedoch, in der Hauptstadt der Kanalinsel Jersey, ist es mein Mann, der ein schönes Hemd in einem kleinen Ecklädchen entdeckt.

Nach einer sehr kurzen Denkpause wirft er den mir erst kürzlich entgegengeworfenen Satz "Ich brauche keine Hemden mehr" über Bord, und wir betreten das Geschäft. Allerdings mit dem Versprechen, dann auch einige alte Hemden auszusortieren.
Der kleine Herrenausstatterladen ist voll gestopft, aber ordentlich sortiert, mit Hemden, Schuhen, Hosen und Jacketts. Dazu einige kleine Accessoires für festliche Anlässe.
Der Verkäufer, der einzige hier, denn es passt auch sonst niemand mehr hinter die Theke, ist gerade beschäftigt mit einer Mutter und ihrem dreizehnjährigen Sohn. Very British warten wir beide natürlich geduldig. Nach einigen Minuten macht mein Mann dann doch den Ansatz schon wieder gehen zu wollen, denn eigentlich will er zunächst einmal nur wissen, ob das Warten sich überhaupt lohnt, wenn wir den Preis für die Hemden erfahren.
Dann jedoch entpuppt sich die Beratung des Verkäufers, dessen Frisur mich stark an Rod Stewart erinnert, spannend zu werden, so dass wir bleiben, schauen und genießen.
Der schmächtige Dreizehnjährige steht da in einem dunkelblauen Anzug und lässt die Beratung von Verkäufer zu Mama regungslos über sich ergehen. Man kann nicht erkennen, ob es ihn interessiert. Der Anzug scheint bereits gewählt zu sein, aber es muss noch ein Hemd her.
Zwischendurch entschuldigt sich die Mutter auf typisch britisch-freundliche Art, dass wir warten müssen, aber es ginge hier um die Hochzeit ihrer Mutter, also der Großmutter, die sich entschieden hat, mit 72 Jahren noch einmal zu heiraten. So, nun wissen wir wenigstens hier schonmal Bescheid und signalisieren, dass uns das Warten natürlich überhaupt nichts ausmacht und sie da wirklich "no worries" haben sollte und überhaupt, "take your time", oder was wir sonst noch an englischen Floskeln auf Lager hatten.

Der Verkäufer ist überaus clever und hat natürlich längst erkannt, dass wir uns für die Hemden interessieren. Immerhin haben wir schon einige Kästchen aus den Regalen genommen und nach Preisschildern abgesucht. "They are all 39 pounds" ruft er zwischen die Diskussion um Rüschenhemd und Manschettenknöpfe. Nur 39 Pfund! Das ist natürlich ein Grund, noch länger zu warten.
Wir studieren alle Hemdenmuster und fassen drei verschiedene ins Auge.
Das jugendliche Hochzeitsanzugsopfer hat derweil keinerlei Chance, ein Wörtchen bei der Hemdenauswahl mitzureden und steht mit gesenktem Kopf neben der Theke, und wir hören gespannt zu.
Es geht darum, dass der Mutter die Knöpfe an dem Hemd nicht gefallen. "Du meine Güte", sagt sie immer wieder, "der Junge ist 13!" Genau, denke ich, schon allein das Rüschenhemd ist eine Herausforderung. Das scheint die Mutter allerdings nicht zu stören. Es sind nur die Knöpfe, schwarz-hochglänzend mit goldenem Rand.
Der Verkäufer hingegen ist vollkommen begeistert und schwört den Jungen darauf ein, dass genau das zum Anzug passt, wie noch nie etwas zu irgendeinem Anzug gepasst hat.

Dabei fällt uns auf, dass er tatsächlich sein Handwerk versteht und ganz offen und ehrlich ist. So fällt dann auch sein Kommentar aus, als die Mutter ihn nach weißen Knöpfen oder
ähnlich Schlichtem fragt. Einfache weiße wären doch schön schlicht-klassisch. Der Verkäufer entgegnet darauf "You call it plain classic, I call it plain awful", er nennt sie schlicht furchtbar. Und ein "nach 5 Bier allerdings fände man sie vielleicht cool" rundet seine persönliche Einschätzung ab.
Dann wird der Junge gefragt, was er meint, aber er meint einfach nichts.
Als sich die Mutter bei uns erneut fürs Warten entschuldigt, mache ich den gravierenden Fehler, meine Meinung in die Beratung einfließen zu lassen, denn ich möchte die Mutter unterstützen. Das Rüschenhemd mit den glänzenden Knöpfen ist für mich auch eine Nummer zu dick, und ich frage, ob ein junger Mann mit dreizehn vielleicht auch sehr nett aussehen würde, wenn er ein ganz edles, hochwertiges weißes T-Shirt zum Anzug trägt. Das hätte ich bei jungen Leuten auch schon oft gesehen.
Ach du meine Güte, jetzt bekomme ich den gesamten Shitstorm des Verkäufers ab, da ein T-Shirt natürlich gar nicht geht! Das wäre ja genauso als wenn man in Badehose zur Beerdigung ginge, meint er. Ich halte sofort meine Klappe und lausche nur noch demütig, aber immer noch begeistert.
Ich vergaß, dass ich mich hier, wenn auch die Kanalinseln als Crown Dependencies einen Sonderstatus besitzen, immerhin doch noch irgendwie im Vereinigten Königreich befinde, zumindest was die Mentalität und das Traditionsdenken der Menschen anbetrifft.
Wird also die Mutter am Ende das Rüschenhemd kaufen oder nicht? Wir halten weiter aus und sind Zuschauer eines Beratungsmarathons, wie wir ihn noch nie erlebt haben.
Aber nein, sie nimmt am Ende das Rüschenhemd nicht, auch wenn der Verkäufer ihr sogar angeboten hat, es zurückzunehmen, wenn der Junge damit nicht einen Riesenerfolg und Jubelstürme verzeichnet.

Irgendwann sind wir dann dran. Wir loben zunächst sein Beratungstalent und sagen ihm, dass wir solche Läden und solch engagierte Besitzer in Germany eher nicht mehr finden, woraufhin der Rod-Stewart-Verschnitt stolz entgegnet, dass die da drüben auf der britischen Insel sowas auch nicht mehr haben. Punkt. Er ist von sich überzeugt, das ist uns jetzt klar.
Er holt das gewünschte Hemd aus dem Regal, und ehe mein Mann seine Größe nennen kann, hat der Verkäufer diese schon zielsicher in der Hand. "Aber es geht um entsprechend lange Ärmel" schiebt mein Mann noch ein. Weiß er, hat er schon gesehen. Hat er. Das passt. Er solle nun mal in die Umkleide gehen und sich davon überzeugen.
Mein Mann will das Hemd einfach nur mal kurz über seines direkt im Laden werfen,dann weiß er schon, ob das passt.
Auf keinen Fall! Das akzeptiert der Verkäufer nicht. Ab in die Umkleide, ausziehen, anziehen, please, bitte schön!
Das Hemd passt, doch der Verkäufer bemängelt, dass er doch nicht die richtige Sicht auf die Hemdenpracht hat, weil da die Bauchtasche noch in die Hose eingeflochten ist. Als mein Mann entgegnet, das ginge schon in Ordnung, er bräuchte die nicht extra abnehmen, ist der Verkäufer einem Herzinfarkt nahe und besteht darauf, dass die Bauchtasche abgeschnallt wird. Erst jetzt ist er zufrieden.
Ein weiteres schickes Hemd wird in Augenschein genommen, aber es hat einen anderen Schnitt und muss deswegen auch wieder anprobiert werden.
Die Entscheidung ist schnell gefallen, die Hemden kommen mit. Jetzt läuft der Verkäufer zur Höchstform auf und macht meinem Mann klar, dass er unbedingt noch ein Alcantara-Jackett braucht. Knuffelfrei, versteht sich, das ist das absolute Plus seiner Jacketts, und um das zu untermauern, quetscht er das Jackett, knuffelt es durcheinander und haut auf seiner Theke noch zusätzlich darauf herum.
Es ist tatsächlich immer noch faltenfrei und wird einfach mal anprobiert. Mein Mann wehrt sich aber noch mit dem Argument einer besonderen Zwischengröße, die der Verkäufer natürlich auch auf Lager hat. Mein Argument schließlich, die Art von Blau ginge gar nicht, zieht zwar, wird aber durch das Vorhandensein des Modells in Schwarz auch entkräftet.
Der Verkäufer versteht zwar nicht, dass uns das Blau nicht zusagt, gibt aber dann doch mal nach und kramt eines in Schwarz hervor.
Die Ärmel sind zu lang, aber Du ahnst schon, das kann man ändern, womit wir dann einverstanden sind.
Als er dann noch die Jeans einer Marke preist, die auf dem Kontinent ab 100,- erst zu bekommen ist und bei ihm für nur 59 Pfund, ist es uns doch zu viel, wir lehnen dankend ab.
Dennoch sind alle Parteien glücklich, und der Verkaufsheld möchte nun wissen, woher wir kommen, wie lange wir hier in Jersey bleiben und wo wir untergekommen sind.

Im Pomme d´Or Hotel um die Ecke, ein sehr schönes Hotel. "Ah", sagt er, "German Headquarters". Ich verstehe zunächst überhaupt nicht, was er damit meint und denke, es kommen dort so viele deutsche Touristen unter, dass man hier von "German Headquarters" spricht.
Es ist in der Tat aber ganz anders gemeint, denn das Pomme d´Or Hotel war im Zweiten Weltkrieg das Hauptquartier der Deutschen.
Und nun bekommen wir eine Geschichtsstunde der besonderen Art.
Man hätte die Geschichte des Hotels lange nicht öffentlich gemacht, denn einst checkte dort wohl eine Jüdin ein, die sofort das Hotel wieder verließ als sie hörte, welche Funktion das Gebäude früher hatte.
Von seinem Großonkel wüsste er einige Geschichten zur Geschichte, wie z.B. die des Sichtungsfluges eines deutschen Piloten, der über Jersey kreiste und allmählich immer niedriger seine Schleifen zog, bis er schließlich landete. Dann hat man ihn befragt, was er meint, hier vorzufinden, und er beschrieb die ganzen Türme, die er dort von oben sehen konnte. Das waren allerdings die Martello-Türme, die teilweise schon im englischen Bürgerkrieg erbaut und teils in der Zeit der Napoleonischen Kriege errichtet wurden.
Jersey ist in der Tat eine schwer befestigte Insel, doch stammen die Festungen und Türme in erster Linie aus früheren Zeiten als dem Zweiten Weltkrieg, wenn auch in den 1940er Jahren die Nazis hier die Festungen erweitert und Bunker gebaut haben.
Und natürlich haben die Nazis Soldaten auch zu den Kanalinseln geschickt, die aber dort seiner Ansicht nach sehr froh sein konnten, denn, hey, das hier ist Jersey, da ist der Sandstrand von St. Brelade gleich um die Ecke. Die armen Kerle, die nach Stalingrad oder in die afrikanische Wüste
geschickt wurden, die hatten es schlecht. Auf Jersey hingegen, das war dann ja klar, gab es nicht wirklich etwas anzugreifen und nichts zu verteidigen. Für die Deutschen war es ein bisschen „Wir haben den Fuß in England, und für die Jerseyaner war der Vorteil, dass die Deutschen gute Löhne zahlten.

Doch lassen wir diese Kriegszeiten beiseite, wir wissen nun Bescheid über unser Hotel und machen uns allmählich auf den Weg.
Als wir 2 Tage später das geänderte Jackett abholen, bringen wir Verstärkung mit in Form dreier Mitreisender, doch der Verkäufer ist so gut wie auf dem Weg, seine Enkelin aus der Schule abzuholen.
Dennoch bringt er rasch ein weiteres Jackett und ein Hemd an den Mann, aber nicht schon wieder an meinen. Das Hemd ist viel zu groß, woraufhin er entgegnet, wenn man sich wohl einen Monat bei MacDonalds einbuchen würde, dann sässe es wie angegossen.
Aber natürlich hat er auch die passende Größe.

Glückselig verabschieden wir uns und besuchen eine Gin Destille, wo uns ein nicht minder schönes Erlebnis vergönnt wird. Doch diese Geschichte muss erst noch geschrieben werden. Im Kopf ist sie schon, zusammen mit einigen Sorten Gin.
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